Grußwort Roland von Hunnius anlässlich der Gedenkstunde der FDP Bergstraße zur 100. Wiederkehr des Geburtstags von Walter Scheel in Heppenheim

Die richtige Politik machen, statt die eigene Haut zu retten!

Denke ich an Walter Scheel, fällt mir das Jahr 1972 ein.

Es ist Donnerstag, der 27. April 1972. Die politische Bundesrepublik hält den Atem an. Auch meine Kollegen in der Marketingabteilung in der sechsten Etage des Unternehmens, in dem ich als Product Manager in Celle beschäftigt war, halten den Atem an. Die Arbeit ruht. Wir gruppieren uns um einen eigens dafür im Büro aufgestellten Fernseher und starren auf den Bildschirm.

Die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages hatte ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt beantragt und machte sich Hoffnungen, Brandt durch Rainer Barzel auszutauschen. Anlass war die von der sozialliberalen Koalition eingeleitete und von konservativen Kräften heftig bekämpfte neue Ostpolitik. Die Chancen für Barzel standen gut: Nach dem Übertritt einiger FDP- und SPD-Abgeordneter zur CDU hatte die Koalition ihre Mehrheit im Parlament verloren.

Beide Seiten bringen sich noch einmal in Position.

Auch Bundesaußenminister Walter Scheel für die FDP. Seine Worte jagen mir noch heute – 47 Jahre nach der historischen Bundestagssitzung – Schauer über den Rücken. Scheel ist Realist. Er muss zum Zeitpunkt seiner Rede davon ausgehen, dass die Bundesregierung gestürzt wird und die FDP ihre Ministerämter einbüßt.

Hören wir ihn selbst:

Wir Liberalen leben bewusst mit dem Risiko. Wir sind so viele Krisen und Rückschläge gewohnt, dass wir die Existenzangst überwunden haben. Wir haben 1969 das getan, was für unser Volk richtig und notwendig war, obwohl wir wussten, dass wir damit in die schwerste Belastungsprobe unserer Parteigeschichte gehen würden. Ich hätte heute nicht den Mut, vor unsere vielen Mitglieder, die draußen im Lande Zeit, Kraft, Nerven, Geld und oft ihre gesellschaftliche Stellung für diese Partei eingesetzt haben, vor unsere Helfer und Wähler zu treten, wenn wir das politisch Falsche getan hätten, um auf jeden Fall unsere Haut zu retten. Diese kleine und mutige, gescholtene und geschlagene, häufig für tot erklärte und immer wieder aufgestandene Freie Demokratische Partei hat mehr für das Wohl dieser Republik bewirkt, als ihrer zahlenmäßigen Stärke zuzutrauen war.

In diesem Statement steckt Selbstbewusstsein und zugleich Demut, es setzt auf politische Überzeugung statt Parteitaktik. Der so spricht und handelt, tut das Richtige für die Bevölkerung und nimmt das Todesrisiko seiner Partei bewusst in Kauf. Auf einen Nenner gebracht: Scheel bekennt sich zu einem Grundsatzliberalismus statt eines Winkelzugliberalismus.

Ich gebe gern zu, dass er für mich damit ein politisches Vorbild ist.

Wer mit Walter Scheel nur den launigen Sänger von „Hoch auf dem gelben Wagen“ verbindet, verkennt ihn wahrlich gründlich. Scheel war zeit seines parteiaktiven Lebens – also bis er zum Bundespräsidenten gewählt wurde – ein Reformer:

  • als Jungtürke (das war ein Schlagwort für reformbereite Liberale in NRW), der in NRW den Koa-Wechsel von der CDU zur SPD einleitete und die Abspaltung der restaurativen Euler-Gruppe in Kauf nahm (Mitstreiter: Willi Weyer, Hans Wolfgang Rubin, Wolfgang Döring)
  • als erster Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: vor ihm gab es und ohne ihn und gäbe es zumindest zu diesem Zeitpunkt keine systematische Entwicklungspolitik.
  • als Mitautor und einer der Väter der Freiburger Thesen, die eine in weiten Teilen neue, für die Forderungen und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen offene Partei schufen (Mitstreiter: Werner Maihofer, Karl-Hermann Flach, Ralf Dahrendorf). Um deutlich zu machen, wie grundlegend die programmatische Neuerfindung der FDP war, zitiere ich nur einen Satz aus den Freiburger Thesen: „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen.“
  • schließlich als Bundesaußenminister und Vizekanzler in einer sozialliberalen Koalition, die er selbst aus der Taufe gehoben hatte. Gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt vertrat er die Entspannungspolitik nach Osten und verhandelte die Ostverträge. Die FDP hält Kurs und setzt diese Politik später unter Hans-Dietrich Genscher in einer Koalition mit der CDU/CSU nahtlos fort – obwohl die Unionsparteien vorher ebendiese Politik aufs Schärfste bekämpft hatten. Heute stellt sie niemand mehr in Frage. Sie gehört zu den Weichenstellungen für die später erlangte Wiedervereinigung Deutschlands.

Rolf Schroers, der langjährige Leiter der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach, beschrieb Walter Scheel einmal als Persönlichkeit mit „einer unnachahmlichen Mischung aus Härte und Heiterkeit“.

Vielleicht kann dies ja auch ein Erfolgsrezept für die jetzige Generation liberaler Politiker sein: Verbindlichkeit im Umgang, gepaart mit klarem Kurs.

Walter Scheel, der am 08.Juli 100 Jahre alt geworden wäre, hat 1972 gesagt:

Ich hätte heute nicht den Mut, vor unsere vielen Mitglieder, die draußen im Lande Zeit, Kraft, Nerven, Geld und oft ihre gesellschaftliche Stellung für diese Partei eingesetzt haben, vor unsere Helfer und Wähler zu treten, wenn wir das politisch Falsche getan hätten, um auf jeden Fall unsere Haut zu retten.

Arbeiten wir daran, dass er dies so auch für seine FDP des Jahres 2019 sagen könnte.

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Roland von Hunnius